• Von Marc Brost | Dagmar Rosenfeld | Fritz Vorholz
• Datum 31.08.2012 – 12:26 Uhr
• Quelle DIE ZEIT, 23.8.2012 Nr. 35
Grüne Energie Lüge auf der Stromrechnung
Von wegen grüne Energie ist teuer. Die Politik ist schuld an hohen Preisen.
© dpa
Windräder im Hafen von Hamburg
Er wird die Kanzlerin des Wortbruchs überführen, bald ist es so weit. Er wird dann eine Zahl nennen, und es wird eine andere sein, als die Kanzlerin versprach. »Rein mathematisch«, sagt er, sei die Sache längst klar. Bloß geht es bei dieser Sache nicht um Mathematik und irgendeine Zahl, sondern um das größte Vorhaben der Regierung. Und deswegen befindet er sich mitten in einem veritablen politischen Konflikt.
Denn er ist der Mann, der den Strompreis mitbestimmt.
Claus Hodurek, 53 Jahre, gelernter Elektroingenieur: Er berechnet den Aufschlag, den jeder Stromkunde in Deutschland für den Ausbau der erneuerbaren Energien bezahlen muss. Seitdem die schwarz-gelbe Bundesregierung den Atomausstieg beschloss, ist dieser Aufschlag zum Maßstab für bezahlbare Strompreise geworden – und damit für das Gelingen der Energiewende insgesamt. Als die Kanzlerin im Sommer 2011 vor dem Bundestag die Energiewende erklärte, sprach sie auch über den Aufschlag, die sogenannte EEG-Umlage. Merkel versicherte, dass diese Umlage nicht »über die heutige Größenordnung« steigen werde. Da lag sie bei 3,5 Cent.
Es sind nur noch sechs Wochen, dann wird Hodurek den neuen Aufschlag nennen. Eine konkrete Zahl kann er noch nicht beziffern, und selbst wenn er könnte, würde er es nicht tun. Aber realistisch ist eine Umlage zwischen 4,8 und 5,3 Cent. Das wären fast 50 Prozent mehr.
Claus Hodurek ist kein Mitglied der Regierung, kein Beamter des Verwaltungsapparats. Er arbeitet bei 50 Hertz, einem von vier Unternehmen, die für den Betrieb der Hochspannungsleitungen und die Berechnung der EEG-Umlage verantwortlich sind. Am 15. Oktober wird die neue Umlage feststehen, und auch wenn Hodurek und seine Kollegen so etwas nie sagen würden: Natürlich macht die Regierung Druck, den Anstieg so gering wie möglich zu halten.
Man könnte jetzt also die Geschichte von Claus Hodurek und der Kanzlerin erzählen, vom Mann der Zahlen und der Frau des Wortbruchs. Man könnte beschreiben, wie furchtbar teuer die Energiewende wird: wie sie die Industrie zu ruinieren droht und die Bürger in die Armut treibt – und das nur, weil in Deutschland immer mehr Strom aus Solarkraftwerken und Windparks kommen soll.
Aber das wäre eine verlogene Geschichte.
Denn es stimmt zwar, dass der Strompreis in Deutschland steigen wird – aber er steigt nicht in erster Linie wegen der Energiewende. Hinter dem Streit um die EEG-Umlage steckt mehr: Es ist ein Machtkampf zwischen den Befürwortern und Gegnern der Energiewende, zwischen neuen Anbietern und den etablierten Stromkonzernen. Ihnen und ihren Helfern geht es darum, die Energiewende zu verzögern, zu blockieren, umzukehren. Der Strompreis ist dabei nur Mittel zum Zweck.
Dies ist die Geschichte der Strompreislüge.
Man muss weit zurückgehen, um sie zu erzählen, bis ins Jahr 1988. Damals beschrieben Wissenschaftler im Auftrag der EU erstmals detailliert, dass der herkömmliche Strom aus Kohle-, Gas- oder Atomkraftwerken im Grunde viel zu günstig sei. Unberücksichtigt bliebe nämlich, was die Gesellschaft an Folgekosten zu tragen habe – etwa die Umweltverschmutzung durch die Abgase der Kraftwerke. Oder die Gefahr für die menschliche Gesundheit. Würde man diese Schäden auf den Preis draufschlagen, schrieben die Wissenschaftler, müsste herkömmlicher Strom fast ein Drittel teurer sein. »Die Energiekonsumenten von heute leben auf Kosten künftiger Generationen«, hieß es 1992 in einer Expertise des Prognos-Instituts für das Bundeswirtschaftsministerium.
Nimmt man die damaligen Berechnungen der Wissenschaftler zum Maßstab, wäre der Strom aus Kohle-, Gas- oder Atomkraftwerken heute rund sieben Cent teurer. Es gäbe kaum noch einen Unterschied zu Sonne, Wind oder Biogas.
Anstatt aber die herkömmliche Energie teurer zu machen, entschied sich die Politik damals, den grünen Strom zu fördern. Niemand wollte den etablierten Energiekonzernen am Zeug flicken. Deshalb schuf die schwarz-gelbe Koalition unter Helmut Kohl im Jahr 1990 das Stromeinspeisegesetz; die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder machte im Jahr 2000 daraus das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Es räumt allen Grünstromerzeugern zwei Privilegien ein: erstens eine Absatzgarantie für ihren Strom – und zweitens den Anspruch auf einen festen, von den Stromverbrauchern zu zahlenden Cent-Betrag pro Kilowattstunde. Daraus entsteht dann die EEG-Umlage.
Es ist die Zahl, die Claus Hodurek berechnet.
Der Mann, der den künftigen Strompreis kalkuliert, ist kompakt, trägt Karohemd und baut in seine Sätze gern Kalenderweisheiten ein. Ende September wird Hodurek mit seiner Zahl im Gepäck nach Bonn reisen. Dort, im Gebäude der Bundesnetzagentur, werden er und seine Kollegen von den anderen Netzbetreibern zwei Tage lang mit Vertretern des Umweltministeriums die endgültige Höhe des Preisaufschlags besprechen und festlegen.
Im Kern geht es bei Hodureks Arbeit darum, eine Prognose darüber abzugeben, wie viel Strom in den kommenden zwölf Monaten aus erneuerbaren Energiequellen erzeugt werden wird. Denn das ist das Konstruktionsprinzip der EEG-Umlage: Für jede Kilowattstunde des grünen Stroms garantiert der Staat den Herstellern mehr Geld, als der Verkauf dieser Kilowattstunde an der Strombörse bringt. Diese Differenz zwischen Börsenpreis und Garantiepreis wird durch die EEG-Umlage aufgefüllt.
Es ist paradox: Weil der Ausbau der erneuerbaren Energien den Börsenpreis des Stroms sinken lässt, muss die EEG-Umlage steigen, je mehr grünen Strom es gibt. Wenn man so will, sind die erneuerbaren Energien ein Opfer des eigenen Erfolgs.
Wenn aber der Strompreis an der Börse sinkt: Warum haben die Verbraucher dann nichts davon? Rein rechnerisch müssten sie doch weniger zahlen, – schließlich sinkt der Börsenpreis stärker, als die Umlage steigt. Rund 13,5 Milliarden Euro betrug das Gesamtaufkommen der EEG-Umlage im vergangenen Jahr. Das Problem: Nicht alle mussten sich gleichmäßig daran beteiligen, der Staat ließ vor allem für große Industrieunternehmen zahlreiche Ausnahmen zu. Doch was die Privilegierten nicht zahlen, müssen die anderen mitbezahlen – kleinere Unternehmen und alle privaten Haushalte. Deswegen steigt der Strompreis für die Bürger überproportional stark.
Das ist die Ungerechtigkeit, gegen die Bernd Drechsel jetzt klagt.
Am Anfang von Drechsels Betrieb steht ein Dampfkessel, den sich sein Großvater lieh, 62 Jahre ist das her. Der Großvater färbte Teppichgarne. Heute leitet der Enkel die Textilveredlung im oberfränkischen Selb. Fast 140 Mitarbeiter beschäftigt er. In den vergangenen Jahren hat Bernd Drechsel in neue Anlagen investiert, er hat den Betrieb leistungsfähiger und zugleich energieeffizienter gemacht. »Umweltbezogene Aspekte«, schrieb er in seine Firmenrichtlinien, »sind in die Entscheidungs- und Handlungsstruktur unseres gesamten Managementsystems integriert.« Doch ausgerechnet diese Umweltfreundlichkeit kommt Drechsel teuer zu stehen. Denn er zahlt die EEG-Umlage, von der andere, schmutziger produzierende Betriebe befreit sind.
Damit Betriebe aus energieintensiven Branchen wie Chemie und Stahl am Standort Deutschland bleiben, werden sie von der EEG-Umlage nahezu freigestellt oder müssen nur einen ermäßigten Satz abführen. Entscheidend ist die Höhe des Stromverbrauchs (von 2013 an mindestens ein Gigawattstunden pro Jahr) sowie der Anteil der Stromkosten an der Bruttowertschöpfung (mindestens 14 Prozent). Im vergangenen Jahr haben knapp 600 Unternehmen – die zusammen fast 20 Prozent des Stromverbrauchs ausmachen – davon profitiert. Der Wert dieser Vergünstigungen: mehr als zwei Milliarden Euro. »Die Großindustrie kann massiv vom niedrigen Börsenpreis für Strom profitieren«, sagt Klaus Müller, der Chef der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. »Börsenstrom ist heute deutlich günstiger als noch vor einem Jahr.«
121.000 Euro hat Textilunternehmer Drechsel nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr an EEG-Umlage gezahlt. Ähnlich viel gab er fürs Energiesparen aus – für effizientere Maschinenantriebe und bessere Lampen. Was Drechsel dadurch an Stromkosten einsparte, musste er für die Umlage wieder ausgeben. Das findet er absurd. Noch absurder findet Drechsel: Hätte er nicht in effizientere, umweltfreundlichere Anlagen investiert, würde sein Betrieb wahrscheinlich als »energieintensiv« gelten – und müsste viel weniger Umlage zahlen. Deswegen hat Drechsel seinen Stromlieferanten jetzt auf Rückzahlung der Umlage verklagt. »Ich kann nicht abhauen und den Standort ins Ausland verlagern, meine Kunden sitzen vor allem hier in der Region, und wir sind Teil der hiesigen Wertschöpfungskette«, sagt er. Bernd Drechsel ist nicht gegen die Energiewende. Er will nur Gerechtigkeit.
»Alle Unternehmen und Verbraucher, die es könnten, sollten auch die EEG-Umlage zahlen«, fordert Jochen Flasbarth, der Chef des Umweltbundesamtes (UBA). »Dann würden die Kosten auf mehr Schultern verteilt, und die Umlage würde sinken.«
Die Realität sieht anders aus. Bernd Drechsel erzählt von einem Unternehmer aus Oberfranken, der in den freien Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr die Maschinen nonstop habe laufen lassen, um den Stromverbrauch nach oben zu treiben – und auf diese Weise noch in den Genuss der EEG-Privilegien zu kommen. Man erzählt sich viele solcher Geschichten in Unternehmerkreisen. Denn auch das ist absurd: Um den Zuschlag zu umgehen, mit dem der Ausbau umweltfreundlichen Stroms finanziert wird, lassen Firmen ihre Maschinen länger laufen als notwendig – und schädigen damit die Umwelt.
Es ist nicht so, dass man Geschichten wie diese in Berlin nicht kennen würde. Warum verschont die Politik die großen Industrieunternehmen, während sie den Privathaushalten zusätzliche Kosten aufbürdet? Warum akzeptiert man die Konstruktionsfehler der EEG-Umlage? Und wenn der herkömmliche Strom aus Kohle-, Gas- oder Atomkraftwerken eigentlich zu billig ist: Müsste dann nicht dieser Strom teurer werden, statt grünen Strom teuer zu fördern?
Auch Thomas Bareiß kennt diese Fragen. Er ist der energiepolitische Koordinator der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und weil man kritische Fragen besser beantwortet, bevor zu viele sie stellen, schrieb er seinen Fraktionskollegen Ende Juli einen mahnenden Brief. »Die politische Auseinandersetzung zum Thema Strompreise verschärft sich zunehmend«, schrieb Bareiß. »Dabei spielen die Ausnahmetatbestände deutscher Unternehmen von den Stromkosten und der EEG-Umlage eine zentrale Rolle.«
Bareiß, 37, ist einer der unionsinternen Kritiker der Energiewende. Er gehört zu den wenigen Abgeordneten, die sich überhaupt noch kritisch über die Kanzlerin äußern. Sein Wort hat bei den Unzufriedenen Gewicht. Zwei Wochen nach der Atomkatastrophe von Fukushima sagte er im Bundestag, der Betrieb der deutschen Kernkraftwerke sei »nach wie vor verantwortbar«. Bareiß stammt aus dem Südwesten Deutschlands, sein Wahlkreis ist landwirtschaftlich geprägt, dazu kommen viele mittelständische Industriebetriebe. Und so warnte er in seinem Brief an die Fraktionskollegen, die Ausnahmen für die Industrie seien »unverzichtbar«.
Oft, sehr oft kommt der Hinweis auf Wettbewerbsnachteile der Unternehmen. Doch energieintensive Betriebe stehen nicht automatisch in scharfer Konkurrenz mit dem Ausland. Schon 1992 hieß es in der Prognos-Expertise für das Bundeswirtschaftsministerium, der ständige Hinweis auf Wettbewerbsnachteile für die heimischen Grundstoffindustrien solle »nicht überstrapaziert werden«. In einer aktuellen Untersuchung für das Bundesfinanzministerium steht, Firmen müssten »trotz höherer Energiepreise nicht an Absatz einbüßen«. Es sei sogar beobachtet worden, dass zusätzliche Investitionen getätigt wurden, »gerade in Regionen mit hohen Energiepreisen«.
UBA-Chef Flasbarth fordert deshalb, nur noch solche Unternehmen bei der EEG-Umlage zu privilegieren, »die andernfalls gravierende Nachteile im internationalen Wettbewerb hätten«. Der deutsche Gesetzgeber aber hat sich anders entschieden: hohe Energiekosten, hoher Wettbewerbsdruck – so einfach soll das sein.
Und so erweist sich die Geschichte vom teuren grünen Strom nach und nach als Lüge. Denn es ist vor allem die Politik, die ihn teurer macht.
Johannes van Bergen ist eine elegante Erscheinung, große Nase, perfekter Scheitel, das Grau der Haare nur eine Nuance heller als der Zweireiher, den er trägt. Ein Mann, der dem biederen Ambiente der Stadtwerke Schwäbisch Hall unternehmerische Grandezza verleiht. »Nichts macht erfolgreicher als Erfolg«, sagt van Bergen über van Bergen. Seit 22 Jahren ist er Geschäftsführer der Stadtwerke, sein Name ist in der deutschen Energiewirtschaft ein Begriff: Van Bergen war Präsident des Bundesverbands Kraft-Wärme-Kopplung, er hat an einem energiepolitischen Eckpunktepapier für die Große Koalition unter Angela Merkel mitgeschrieben. Als Gerhard Schröder regierte, nannte er den Kanzler öffentlich einen Spinner. Schröder hatte van Bergens Branche damals die Zukunft abgesprochen: Die Stadtwerke würden verschwinden, stattdessen werde es nur noch wenige große Player geben.
Schröders Kanzlerschaft ist längst Vergangenheit, die deutschen Stadtwerke sind es nicht. 1.400 existieren bundesweit, ihre Geschäfte laufen meist bestens, so wie in Schwäbisch Hall. Van Bergen hat seinen Laden konsequent auf Wachstum getrimmt, er hat die Mitarbeiterzahl verfünffacht, die Beteiligungen erweitert und den Erlös gesteigert. Doch nun ist der Mann, der jahrelang investierte, zum Bremser geworden. In Sindelfingen hatten die Stadtwerke den Bau eines Gaskraftwerks geplant, 750 Millionen Euro Investitionssumme. Dieses Vorhaben hat van Bergen gestoppt.
Man könnte diesen Mann für einen Hardliner halten, für einen Gegner der Energiewende. Denn trotz des Ausbaus der Erneuerbaren wird Deutschland auch künftig Gaskraftwerke brauchen – sie liefern den Strom, wenn keine Sonne scheint oder der Wind nicht bläst. Was wäre also einfacher, als die Energiewende zu torpedieren, indem man den Bau solcher Kraftwerke blockiert?
Doch Johannes van Bergen ist kein Hardliner. Er kalkuliert nur hart. Und ein neues Kraftwerk zu bauen, rechnet sich für ihn derzeit nicht.
Van Bergens Baustopp führt zu einer grundsätzlichen Frage der Energiewende: wie teuer der Ausbau der grünen Stromerzeugung wirklich ist. Die Gegner der Wende sagen, der Strom werde auch deshalb teurer, weil jedes neue Windrad, jede neue Solaranlage so viel koste. Das stimmt – wenn man die Kosten für diese neuen Anlagen mit den alten, fossilen Kraftwerken vergleicht, die in der Ära der Energiemonopole geplant und gebaut wurden, die schon lange laufen und betriebswirtschaftlich abgeschrieben sind. Wie falsch das Argument von den teuren Solaranlagen und Windparks ist, offenbart sich, wenn man die Kosten von neuen Kraftwerken miteinander vergleicht. Da erweist sich auf einmal auch ein neues Gaskraftwerk als ziemlich teuer. So teuer, dass Johannes van Bergen den Bau ökonomisch nicht verantworten mag: Denn was er durch den Verkauf von Strom einnehmen könnte, würde die Kosten der Stromerzeugung nicht decken. Er wisse von »mindestens 20 Gaskraftwerken«, die fertig geplant seien, deren Bau sich aber nicht lohnen würde, sagt van Bergen.
Man könnte die Geschichte vom steigenden Strompreis also auch ganz anders erzählen. Man könnte erzählen, dass der Börsenpreis für Strom inzwischen so günstig ist, dass ausgerechnet im Industrieland Deutschland zu wenig neue Kraftwerke gebaut werden – was in wenigen Jahren zu ernsthaften Ausfällen führen könnte. Man könnte beschreiben, wie sinnvoll es ist, beim Kraftwerksneubau auf grünen Strom zu setzen, denn Sonne und Wind gibt es kostenlos – im Gegensatz zu Kohle, Gas oder Uran. Rund 20 Prozent des in Deutschland verbrauchten Stroms stammten zuletzt aus erneuerbaren Energiequellen. Bis 2020 sollen es 35 Prozent sein. Man könnte also die große wirtschaftliche Chance der Energiewende benennen: Deutschland wird unabhängiger von fossilen Brennstoffen, die bald immer teurer werden.
Bloß erzählt die Geschichte kaum jemand so. Stattdessen wird Angst geschürt: vor der Überforderung des Landes. Und davor, dass Energie unbezahlbar wird. Kein Wort davon, dass die steigende EEG-Umlage die Stromrechnung für einen Dreipersonenhaushalt im kommenden Jahr um kaum mehr als fünf Euro pro Monat verteuert – inklusive Mehrwertsteuer.
»Die Bezahlbarkeit von Strom hat oberste Priorität«, sagt Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP). »Auch soziale Gerechtigkeit ist wichtig. Deshalb dürfen wir mit den Energiekosten nicht leichtfertig umgehen«, warnt CDU-Fraktionschef Volker Kauder. »Die Energiewende kostet Geld, und zwar mehr, als die meisten gedacht haben«, meint CDU-Fraktionsvize Michael Fuchs. Seitdem die Bundesregierung den beschleunigten Atomausstieg beschloss, macht ein Wort Karriere: »Energiearmut«. Vor Kurzem zeigten die Tagesthemen in einem Bericht eine junge Mutter, auf dem einen Arm das Baby, in der anderen Hand die Stromrechnung. »Keine Energie fürs Babyfläschchen«, raunte eine Stimme aus dem Off. Die »neue Energiearmut« sei eine »Folge der Energiewende«.
Tatsächlich können manche Menschen ihre Strom- und Gasrechnung nicht mehr bezahlen. Nach Schätzung der Verbraucherzentralen sind es deutschlandweit rund 600.000 Haushalte. Allerdings ist Stromarmut kein neues Phänomen. Bereits 2008, lange vor der schwarz-gelben Energiewende, veröffentlichten die Verbraucherschützer ein Eckpunktepapier zur Stromrechnung einkommensschwacher Haushalte. Sie empfahlen »ein Maßnahmepaket aus finanzieller Förderung, Stärkung der Verbraucherrechte und Anreizen zur Energieeffizienz«. Die Regierung reagierte darauf ziemlich desinteressiert.
In gewisser Weise ist die Geschichte von der Strompreislüge auch ein Lehrstück darüber, wie es so zugeht in der Politik. Leicht hat es, wessen Botschaft in eine Zeitungsschlagzeile passt – und das Wort von der Energiearmut ist besonders schlagzeilentauglich. Wer aber argumentieren, erklären, einordnen muss, der hat meist schon verloren.
Peter Altmaier verliert nicht gern, und deswegen ist der neue Umweltminister gleich nach seinem Amtsantritt in die Offensive gegangen. Er selbst hat davon gesprochen, dass der Strom demnächst teurer werde. Dass der 15. Oktober der »Tag der Wahrheit« sei. Altmaier wollte das Problem möglichst großreden, er wollte Glaubwürdigkeit gewinnen und auf keinen Fall derjenige sein, der die Erwartungen enttäuscht. Man kennt das aus seiner Zeit als Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion. Auch da beschrieb Altmaier eine Sache gern möglichst problembeladen – um hinterher mit einer Lösung zu überraschen.
Nur: Dieses Mal hat er vermutlich keine.
Das erwies sich bereits vor wenigen Tagen. Am 28. August trafen sich die Spitzenfunktionäre von Gewerkschaften, Industrie- und Arbeitgeberverbänden im Kanzleramt, um über die Energiewende zu reden. Ursprünglich war das Treffen geplant, um die Kommunikation »konstruktiver« werden zu lassen, wie Angela Merkel im kleinen Kreis gesagt haben soll. Später war nur noch vom »Strompreisgipfel« die Rede. Herauskommen ist dabei nichts.
Da sind zum einen die Interessen der etablierten Stromkonzerne RWE, E.on, EnBW und Vattenfall. Die Energiewende ist auch ein Angriff auf ihr bisheriges Geschäftsmodell, auf ihre Alleinherrschaft bei der Stromerzeugung. Wenn jeder Bürger ein Windrad oder eine Solaranlage aufstellen kann, dann können plötzlich sehr viele den großen vier ins Geschäft pfuschen: Energiegenossenschaften und Bürgerwindparks, ganze Dörfer und Städte, die sich von RWE & Co. abnabeln.
Für die Konzerne ist diese Vorstellung ein Gräuel. Schon jetzt verlieren sie Marktanteile. »Niemand in der Branche ist mehr gegen die Erneuerbaren«, sagt ein hochrangiger Strommanager. »Aber nun entscheidet sich, wer damit das Geschäft macht.« Die Konzerne wollen die Wende auf ihre Art, mit ihren Windparks und ihren Biogasanlagen. Dafür brauchen sie Zeit. Es würde ihnen nutzen, sollte sich wegen der Preisdebatte der Ausbau des grünen Stroms verlangsamen.
Da ist aber auch der Widerstand in den Regierungsfraktionen von CDU/CSU und FDP. Vor allem bei der Union brodelt es. Mindestens ein Drittel der Abgeordneten, heißt es, habe sich mit dem Atomausstieg nicht abgefunden. Tief in ihrem Innersten sind die wenigsten Parlamentarier von der Energiewende überzeugt. Sie fürchten den Bundestagswahlkampf 2013, bei dem es für die Union mit grünem Strom nichts zu gewinnen gibt. So wird dieser Tage über einen Energiewende-Soli geredet, über die Abschaffung der Stromsteuer, über eine geringere Mehrwertsteuer auf den ansteigenden Förderbetrag für Strom aus Sonne und Wind. Aber all das wird Kosmetik bleiben, weil die grundsätzlichen Probleme tabu sind: der zu billige herkömmliche Strom, die Privilegien für die Großverbraucher und, ja, auch die Konstruktionsfehler des EEG. Bleibt das Gesetz, wie es ist, wird es den Weg zu einer fast vollständigen Versorgung mit grünem Strom kaum ebnen.
Dies ist die Geschichte der Strompreislüge – und wie jeder Blockbuster wird auch sie bald eine Fortsetzung haben. Die Gegner der Energiewende arbeiten bereits daran, für den Herbst, wenn es draußen kälter wird und drinnen die Heizungen angehen. Dann werden sie die Angst vor Stromausfällen schüren. Das ist dann: der Blackout-Bluff.