Teurer Reservemarkt für Kraftwerke
Der Mythos vom drohenden Stromausfall
29.10.2013, 09:36 Uhr | Spiegel Online
Durch die Energiewende werden immer mehr Kohle- und Gaskraftwerke unrentabel. Konzerne wie RWE drohen, sie stillzulegen – und fordern milliardenschwere Reservemärkte, um den Blackout abzuwenden. Dabei lässt sich die Versorgung auch mit den bestehenden Mitteln sichern.
Ein großes Thema der Koalitionsverhandlungen ist die Energiewende: Wie bringt man die Versorgung der Republik mit grünem Strom voran? Doch darauf kann sich die Politik derzeit kaum konzentrieren. Denn die Energiekonzerne verbreiten teils dramatische Warnungen.
E.ON und RWE warnen vor dem Winter
RWE-Chef Peter Terium klagt, Dutzende seiner Kraftwerke rechneten sich nicht mehr. Schon in den vergangenen beiden Wintern sei die Lage angespannt gewesen, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“. „Nun gehen überall in hohem Tempo weitere Anlagen vom Netz.“ Ihm mache das „wirklich Sorgen“. E.ON warnt vor einer „Stilllegungswelle“ und einer „Gefährdung der Stromversorgung“.
Doch warum haben die Energieversorger so große Probleme? Und droht Deutschland wirklich der Blackout?
Die erste Frage lässt sich rasch beantworten. Betreiber alter Kohle- und Gaskraftwerke verkaufen insgesamt weniger Strom, weil die neuen Wind-, Solar– und Biogasanlagen ihnen Konkurrenz machen. Und weil das wachsende Stromangebot die Preise drückt, bekommen sie für jede verkaufte Kilowattstunde auch noch weniger Geld.
Eigentlich sollen Kohle-Kraftwerke ja vom Netz gehen
Die Folgen: Versorger nehmen auf dem Strommarkt teils mehrere Milliarden Euro weniger ein als früher. Dutzende Kohle- und Gaskraftwerke erwirtschaften nicht einmal mehr ihre Betriebskosten; die Versorger erwägen nun, sie abzuschalten.
Im Prinzip ist das politisch gewollt. Es ist ja Ziel der Energiewende, alte, CO2-intensive Kraftwerke aus dem Markt zu drängen. Das Problem ist nur, dass im Moment zu viele Kraftwerke gleichzeitig unrentabel werden. Darunter auch solche, die man noch braucht, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht.
Abhilfe schaffen soll nach Wunsch der großen Energiekonzerne ein sogenannter Kapazitätsmechanismus: Unrentable Kohle- und Gaskraftwerke sollen Bereitschaftsdienst für stromarme Stunden leisten und diesen bezahlt bekommen.
Reserve würde Verbraucher Milliarden kosten
Das könnte den Weiterbetrieb wichtiger Anlagen sichern, indem die „Differenz zwischen ihren Betriebskosten und Einnahmen“ ausgeglichen wird, sagt E.ON-Vorstand Leonard Birnbaum Spiegel Online. Klingt günstig, doch je nach Modell würde das bis zu mehrere Milliarden Euro kosten. Zahlen müssten die Verbraucher.
Doch sind Kapazitätsmärkte wirklich zwingend nötig? Auch darauf gibt es eine klare Antwort: Die Stromversorgung lässt sich auf absehbare Zeit auch mit den bestehenden Mitteln sichern, ohne dass der Blackout droht. Man muss nur die Regeln konsequent anwenden.
Das fundamentale Prinzip der deutschen Stromversorgung lautet: Jeder Kunde hat einen Lieferanten, und dieser muss liefern – egal, was kommt. So steht es in der Stromnetzzugangsverordnung.
Bilanzkreis sorgt dafür, dass der Strommarkt sich selbst regelt
Überwacht wird diese Pflicht über einen sogenannten Bilanzkreis, ähnlich einem Bankkonto. Liefert der Verantwortliche für den Bilanzkreis zu wenig Strom, rutscht sein Konto ins Minus. Dann gibt der Netzbetreiber Kredit: sogenannte Regelenergie. Spätestens nach einer Viertelstunde muss der Anbieter sein Konto wieder ausgleichen.
Dazu kann er die Elektrizität selbst produzieren oder irgendwo einkaufen. Ein Versorger kann also so viele Kraftwerke abschalten, wie er will – solange er am Markt genug Strom kaufen kann. Sollten viele Kraftwerke abgeschaltet werden, würde Strom teurer. Die verbleibenden Kraftwerke würden wieder profitabel.
Auch für Notfälle gibt es einige Reserven
Der Markt würde sich also selbst regeln. Schwierig wird es erst, wenn nicht alle Stromlieferanten ihre Pflichten erfüllen. Doch auch für Notfälle gibt es eine Reihe von Reserven, damit die Versorgung nicht gleich zusammenbricht.
- Über die Regelenergie können die Stromnetzbetreiber kurzfristige Schwankungen ausgleichen. Die Kapazitäten liegen bei mehreren Gigawatt. Das entspricht der Leistung mehrerer Atomkraftwerke.
- Auf dem Intraday-Markt können Versorger bis 45 Minuten vor Lieferbeginn Strom an der Börse dazukaufen, bei einem plötzlichen Kraftwerksausfall sogar noch 15 Minuten vorher. Allein am deutschen Intraday-Markt werden täglich gut 50 bis 70 Gigawattstunden Strom gehandelt. Auch auf anderen europäischen Märkten können die Anbieter einkaufen.
- Manche Anbieter schließen zudem Reserveverträge mit Kraftwerksbetreibern. Diese sichern ihnen Kapazitäten für den Notfall und erfüllen bereits die Funktion des nun geforderten Kapazitätsmechanismus. 2008 waren laut Bundeskartellamt gut 2,9 Gigawatt Kapazität über Reserveverträge gesichert; aktuellere Zahlen wurden nicht erhoben.
- Zusätzlich zu jedem einzelnen Stromanbieter müssen die Stromnetzbetreiber eine Winterreserve bereithalten. Gesetzlich vorgeschrieben sind derzeit rund 2,5 Gigawatt.
- Laut Reservekraftwerkverordnung dürfen Versorger einen Meiler ohnehin nur stilllegen, wenn Deutschlands Stromversorgung auch ohne ihn sicher ist.
Einen Engpass gab es im Frühjahr 2012
Die bestehenden Sicherungen würden nach Ansicht vieler Experten reichen, um die Versorgung stabil zu halten. Das Problem ist nur: Nicht alle Anbieter gleichen ihre Bilanzkreise pünktlich aus oder sichern sich über Reserveverträge ab. Während einer Kälteperiode im Februar 2012 führte das zu ernsten Versorgungsengpässen. Nur die Mobilisierung der letzten Reserven konnte Schlimmeres verhindern.
Die Bundesnetzagentur greift seitdem härter durch. Sie hat eine Reihe von Verfahren gegen mögliche Pflichtverstöße in Bilanzkreisen gestartet. Im September ermahnte sie die Stromnetzbetreiber noch einmal scharf, jede mögliche Verletzung von Verantwortlichkeiten anzuzeigen. Man werde solche Verstöße „künftig ahnden“, bekräftigt eine Sprecherin auf Nachfrage.
Bis zu zehn Millionen Euro Bußgeld, wenn kein Strom kommt
Die Strafen können hart sein. Verstöße gegen die Lieferantenpflicht kann die Bundesnetzagentur mit bis zu zehn Millionen Euro Bußgeld bestrafen. Der zuständige Netzbetreiber kann dem Lieferanten zudem den Vertrag für seinen Bilanzkreis kündigen – und ihn damit vom Markt abtrennen.
Gelingt es, die Anbieter zu disziplinieren, wird die Versorgung auch künftig sicher sein – selbst wenn einige alte Kraftwerke vom Netz gehen. „Es braucht keine schnelle, überhastete Reform des Strommarktes“, schreibt Klaus-Dieter Maubach, Ex-Vorstand bei E.ON, in seinem gerade veröffentlichten Buch „Energiewende. Wege zu einer bezahlbaren Energieversorgung„. „Sondern nur die entschlossene Anwendung bestehender Regeln.“
29.10.2013, 09:36 Uhr | Spiegel Online